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Tinnitus im Spiegel der Kulturgeschichte Artikel für PraxisMag 2-2024 von Tanya Karrer

Karrer T.
Tinnitus um Spiegel der Kulturgeschichte. Wenn's im Ohr ununterbrochen rauscht und klingelt
PraxisMag 2-2024

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Tinnitus hat viel mit dem Zeitalter und der Kultur zu tun, in der wir leben.
Mal galt der Tinnitus als göttliches Flüstern, mal als Druckventil des Körpers oder als inneres Echo der Aussenwelt. Daran angepasst waren die Methoden, mit denen man den Tinnitus loswerden wollte.

Tinnitus | Medizingeschichte


MAKING OF des Artikels über Tinnitus in der Geschichte der Medizin

Tanya Karrer ist Autorin und Informationsspezialistin Medizin und schreibt über Gesundheit, Medizin, Menschen und Organisationen.
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Tinnitus, das ununterbrochene Klingeln oder Rauschen im Ohr, ist nervtötend und beeinträchtigend. Wirkliche Heilung gibt es trotz enormer Fortschritte in der Medizin noch nicht, und dies, obwohl der Tinnitus schon in der Antike bekannt war und beschrieben wurde.

Tinnitus bleibt ein Rätsel

Geht es um die Medizin, neigt man gerne dazu, Heldengeschichten zu schreiben. Von diesen gibt es zum Glück viele. Was Wissenschaft, Forschung und Medizin zugunsten der Menschen und ihrer Gesundheit erreicht haben, ist zugegeben auch grandios. Aber der Mensch bleibt zu einem grossen Teil noch immer ein Wunder, seine Funktionsweise gibt noch immer viele Rätsel auf. Der Tinnitus, seine Ursache und seine Behandlung ist eines dieser Rätsel. Ich wollte mich auf seine Spur begeben.

Medizinische Phänomene sind auch kulturelle Phänomene

Im Studium der Ethnologie lernte ich einst, Phänomene nicht nur aus der eigenen Perspektive (Stichwort: ethnozentrische Brille) zu betrachten, sondern auch vor einem möglicherweise anderen kulturellen/individuellen Hintergrund. Dieser Wechsel der Perspektive findet genauso statt, wenn man in historische Begebenheiten eintaucht.

Medizinische Phänomene und ihre Einordnung und Behandlung sind daher auch immer ein Teil der jeweiligen Kultur. Der Tinnitus wird in der Schweiz und in der westlichen Hemisphäre anders beschrieben und interpretiert als in anderen Regionen der Welt. Und in vergangenen Zeiten anders als heute. Das wollte ich aufzeigen.

Text sinnlich wahrnehmbar machen

Inspiriert wurde ich dabei von Uwe C. Steiners Buch "Ohrenrausch und Götterstimmen". Der Germanist erforschte die Geschichte des Tinnitus aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive und setzte das Phänomen in Verbindung mit dem jeweiligen Zeitgeist. Für den hier verlinkten Artikel wiederum suchte ich nach historischen Fachartikeln der Medizin, die Steiners Thesen stützen.

Nun ist der Tinnitus aber nicht nur ein medizinisches und für die Wissenschaft interessantes Phänomen, sondern eben auch ein sinnliches. Ich wollte diese Sinnlichkeit auch im Artikel erfahrbar machen. Die Leser sollten in eine - dem Tinnitus ähnliche - rauschende und klingende Atmosphäre eintauchen. Je nach Zeitepoche sollte ein der Zeit entsprechendes Klangbild erzeugt werden:

Tinnitus im Mittelalter

Gott entschied über Gesundheit und Krankheit. Der Tinnitus galt als göttliches Zeichen, es war sozusagen ein göttliches Flüstern, das den Mensch mit Gott über einen "Rauschkanal" verband.

Tinnitus in der Zeit der Aufklärung

Der Mensch wird als eine Art Maschine betrachtet. Ist die Mechanik gestört, entstehen Stillstand, Fehlfunktion oder Krankheit. Der Ursprung des Tinnitus vermutete man in den brodelnden Magensäften, deren Dämpfe zischend über die Ohren abgingen. War das Ventil kaputt, erzeugte der Druck entsprechend ein Pfeifen.

Tinnitus während der Industrialisierung

Alles wird lauter, die vielen knatternden Maschinen, die vielen plappernden Menschen in den Städten, das Hufgeklapper der Kutschen, das Brummen der Automobilmotoren und die plärrenden Grammophone. Auch der Tinnitus wird lauter.

Tinnitus in der Romantik

Die Empfindsamkeit gewinnt an Bedeutung. Der Aussenlärm wird verinnerlicht und ganz individuell im Innern, in der Seele, empfunden.

Tinnitus heute

Gemäss Uwe C. Steiner befinden wir uns im Zeitalter der Neurowissenschaften. Der Tinnitus wird als Phänomen des Gehirns betrachtet. Indem ich die Geschichte des Tinnitus als Phänomen der Kultur (nicht der Medizin!) fortführte, wurde er zum "Fake Lärm im Kopf". Dies in Anbetracht der Reiz- und (falschen) Informationsüberflutung, die das Gehirn absorbieren muss. Für Betroffene ist und bleibt der Tinnitus real.

Die Geschichte des Tinnitus soll - gerade eben weil sie (noch) keine Heldengeschichte ist - den Menschen der heutigen Zeit auch etwas Demut lehren. Trotz KI und aller Fortschritte in der Medizin bleibt der Mensch ein Mensch. Ein Mensch, der auch nach Tausenden Jahren der Existenz nicht alles weiss und nicht alles beherrschen kann.


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